Qualitätsdefizit als strukturelles Problem

Auch in Zeiten, wo das Geld knapp ist, muss der Sozialstaat als Bruder des Rechtsstaates als letzt Verantwortlicher bei aller notwendigen Vielfalt der sozialen Träger die Rahmenbedingungen des Wettkampfes flächendeckend ordnen und sichern; als Schiedsrichter auf die Einhaltung der Spielregeln – wie z.B. Fairness und Redlichkeit, Gleichberechtigung und Eigenverantwortung – im Wettbewerb achten sowie sich als Beschützer und Helfer der Menschen verstehen, die im Wettbewerb nicht bestehen können oder durch den Wettbewerb an den Rand gedrängt worden sind.

Wer sich in alles einmischt und auch Gesetze und Verordnungen über die Köpfe der Bürger verabschiedet, der muss sich auch gefallen lassen, dass er es als Aufgabe anzusehen hat, für die ältere Generation und deren Schutz da zu sein.

Der Sozialstaat darf nicht weiter zum Rosinenpicker werden, indem lediglich abgesahnt wird und wobei chronisch, demente oder multi-morbide kranke und alte Menschen einfach übersehen werden.

Vor allem das Mehr an bürokratischen Verordnungen geht eindeutig zu Lasten der pflegebedürftigen Menschen als auch insbesondere des Pflegepersonals. Dieser übertriebene Dokumentationsaufwand hat seinen Ursprung sogar noch aus den Nachweispflichten, die durch das von der Kohl-Regierung eingeführte Pflegeversicherungsgesetz erzwungen wurden.

Gleiches gilt für den Einsatz des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen, denn auch dieser Dienst gilt für den stationären Bereich mehr als fragwürdig.

Aus Gründen der Vereinfachung sollte vielmehr zu früheren Regelungen zurückgekehrt werden, nach denen die Begutachtung im stationären Bereich den Trägern und dem jeweiligen Hausarzt oblag. Der MDK sollte nur dann auftreten, wenn er Zweifel an der Eingruppierung durch den Träger hat.

Durch viele neue gesetzliche Reglungen wird die Pflegequalität regelrecht in die Einrichtungen hinein kontrolliert, Dokumentationspflichten unnötig ausgeweitet, anstatt all diese wohlklingenden Formulierungen durch eine tatsächliche Verbesserung der Pflegequalität zu ersetzen. Dadurch führt der momentane Regierungseifer eher zu einem weiteren Kostenanstieg als zu einer Reduzierung.

„Hunde sind besser gepflegt“

Wesentliche Defizite bei Heimüberprüfungen (nach § 80 SGB XI)

  • 67 % in der Pflegedokumentation stationärer Einrichtungen
  • 60 % in der Pflegedokumentation ambulanter Einrichtungen
  • 63 % bei der Erfüllung der Fachkraftquote
  • 61 % bei der Arbeitsorganisation
  • 44 % bei der Personalführung
  • 57 % im Qualitätsmanagement

Außerdem ist festzustellen, dass tendenziell die so genannte „passivierende Pflege“ bzw. Funktionspflege an Pflegebedürftigen durchgeführt wird. Daraus resultieren sich Mängel in der Ergebnisqualität bei jedem siebten der geprüften Pflegeheime und jeder neunten der geprüften ambulanten Pflegedienste.

Zu den häufigsten Versorgungsmängeln gehören die nicht fachgerechte Dekubitusprophylaxe und -therapie sowie Defizite bei der Ernährung und Flüssigkeitszufuhr, Mängel bei der Inkontinenzversorgung und zu viele freiheitseinschränkende Maßnahmen.

Fehlender Handlungsrahmen

Die Hauptursachen sehen die Verantwortlichen dafür in einer fehlenden Personalqualifikation, in Organisations- und Planungsmängeln sowie zum Teil in einer personellen Unterbesetzung.

Dies zeigen auch die Erfahrungen der MDK-Gutachten aus rund 8.000 durchgeführten Qualitätsprüfungen: „Qualitätssicherung darf nicht die Sicherung des derzeit vorzufindenden Qualitätsniveaus sein.“ Angesichts dieser Befunde ergibt sich die dringende Notwendigkeit, die Qualitätssicherung zu intensivieren.

Auch dürfen Qualitätsprüfungen nicht durch Leistungs- und Qualitätsnachweise ausgeschlossen oder eingeschränkt werden. Denn Zertifikate allein sind noch keine Garantie für das Bieten notwendiger Qualitäten.

Von daher geht die Verantwortung für die Rahmengestaltung der Qualitätssicherung von der Selbstverwaltung auf den Staat über. Dieser ist verpflichtet, einen definierbaren Handlungsrahmen festzulegen. Die Ausfüllung dieses Rahmen wiederum geht dann wieder in die Verantwortung der Selbstverwaltung über.

Pflegeheime werden zu Sterbeheimen

Angesichts von Massenarbeitslosigkeit, Globalisierung und Bevölkerungsentwicklung ist es für einen Sozialstaat wichtig, weder ein gönnerhafter Spender noch ein sozialer Rundumversorger zu sein. Aber: Er hat stets ein Garant sozialstaatlicher Leistungen zu bleiben, um ein Leben aller in Würde zu ermöglichen.

Und hierzu gehören vor allem Alte und Hilfsbedürftige, die ihrerseits 40 oder 50 Jahre lang Garant für den Sozialstaat waren, damit es allen gut ging. Politischer Handlungsrahmen bedeutet die Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen Heimaufsicht, Pflegekassen und MDK, ohne dabei den Handlungsspielraum der beteiligten Personen zu sehr einzuschränken.

Des Weiteren muss in künftigen Gesetzgebungsverfahren zu den Leistungsverbesserungen für Demente eine präzisere Beschreibung des Personenkreises vorgenommen werden, um finanzielle Risiken für die Pflegeversicherung auszuschließen.

Deshalb sind an vielen Stellen strukturelle Veränderungen, die die Bedingungen der Arbeit in der Altenpflege verbessern, dringend notwendig und gefordert. In diesem Zusammenhang sind nämlich eine sachgerechte Ablauforganisation sowie die Pflegeplanung und -dokumentation ein Dreh- und Angelpunkt für die kontinuierliche, fachgerechte und somit qualitätsgeleitete Pflege.

Doch gerade dieser Pflegeprozess wird selten in allen Schritten konsequent umgesetzt mit der Folge, dass die Ablauforganisation in den meisten Fällen völlig überfordert und unzureichend geregelt ist.

Damit ist eine pflegerische Versorgung nicht mehr sichergestellt. Gravierend sind zudem die Defizite in der Qualifikation der verantwortlichen Pflegekräfte, insbesondere im ambulanten Bereich. Auch reicht nur in den wenigsten Fällen das vorhandene Personal aus, um eine adäquate Versorgung sicherzustellen.

Der derzeitige Kostendruck in der Pflege drängt die Einrichtungen in die Tarifflucht, sie müssen ansonsten aufgeben oder vom Markt verschwinden, weil sie mit den immer niedriger werdenden Preisen (z. B. in der häuslichen Krankenpflege) nicht mehr überleben können.

Bereits heute fehlen 160.000 Vollzeitpflegekräfte alleine im stationären Bereich. Denn zum einen müssen private Heime ihr Personal nicht mehr tariflich bezahlen, zum anderen steigen 80 Prozent der Pflegekräfte nach kurzer Zeit wegen untragbarer Arbeitsbedingungen wieder aus ihrem Beruf aus.

Auf der anderen Seite werden Mitarbeiter, die zu kritisch sind, unter Druck gesetzt, bestraft, von Kollegen ausgegrenzt oder gekündigt. Somit ist davon auszugehen, dass in den kommenden Jahren sehr viele Pflegedienste in die Insolvenz geraten werden – wobei es sich dabei keineswegs um die Schlechtesten handelt!

Heute lässt sich nur dann noch Pflege anbieten, wenn auf die tarifliche Bindung und auf Fachkräfte nicht verzichtet wird. Stattdessen ist man auf der Suche nach den kürzesten Pflegezeiten mit geringstmöglichen Strukturqualitäten. Dies kann politisch allerdings nicht gewollt sein.

Wunsch nach selbst bestimmtem Leben

Dadurch wird aus der Sicht der pflegebedürftigen Menschen die Situation in den meisten Pflegeheimen immer unerträglicher. Der berechtigte Wunsch nach einem selbst bestimmten Leben in der häuslichen Umgebung, versorgt durch ambulante Dienste bzw. in geeigneten Wohnformen bleibt von daher für die meisten pflegebedürftigen Menschen ein Wunschtraum.

Dafür aber gibt es für viel Geld und wenig Pflege die „Magensonde pur“: Nichts mehr kauen, nichts mehr schmecken, nichts mehr riechen – das alles bedeutet Kosteneinsparung zum Nachteil alter Menschen. Nur in den wenigsten Fällen ist eine derartige „Pflege vermeidende Maßnahme“ medizinisch nachvollziehbar.

Und das bei Heimkosten, die zwischenzeitlich zwischen 3.500 und 4.000 Euro liegen! Jede Handlung des Pflegepersonals wird nur noch in Minutenwerte eingestuft und abgerechnet. Der alltägliche Pflegewahnsinn: In vielen Heimen stinkt es unerträglich nach Kot und Urin, die Pflegebedürftigen haben dagegen längst aufgeben.

Und die Zustände: Sie sind den meisten Pflegeheimen schon seit Jahren bekannt! Doch alle schweigen, der Erhalt des Arbeitsplatzes wird über die Menschenwürde gestellt.

Politisch geht man sogar so weit, zu behaupten: Pflegen könne jeder – also auch ungelernte Aushilfskräfte. In Wahrheit schafft dies sogar nicht einmal eine Frau, die bereits einen Haushalt versorgt und Kinder großgezogen hat. Denn Altenpflege ist eine äußerst anspruchsvolle Tätigkeit, die nicht nur erhebliche psychosoziale, sondern vielmehr auch pflegefachliche Kompetenzen voraussetzt.

Eine ganzheitliche aktivierende Pflege erfordert vielmehr qualifiziertes Personal zur Sicherung der Pflegequalität. So gilt z.B. in Pflegestufe I eine Grundpflege sowie 90 Minuten Betreuung, in Pflegestufe II sind 3 Stunden vorgeschrieben, in Pflegestufe III sogar 5 Stunden Betreuung vorgesehen.

Tatsächlich aber liegt die tatsächliche Pflege pro Patient aufgrund der Pflegeschlüsselreduzierung bei nicht einmal 1 Stunde pro Tag! Pflegekräfte geraten immer mehr in den Zwiespalt zwischen Bedürfnissen der Pflegebedürftigen und den engen zeitlichen Rahmenvorgaben.

Gleichzeitig wird an der Aus- und Weiterbildung des Fachpersonals gespart, was wiederum die Qualität der Pflege nachhaltig beeinträchtigt. So können heute die meisten Tätigkeiten, die nach dem beruflichen Selbstverständnis und dem Ethos der Altenpfleger zum Beruf gehören, deshalb nicht mehr durchgeführt werden, weil sie nicht mehr refinanzierbar sind.

Hierunter fallen beispielsweise die für die Pflegebedürftigen so wichtigen Punkte wie psychosoziale Betreuung, Sterbebegleitung und andere Zuwendungen.

Das Primat der Wirtschaftlichkeit

Darüber hinaus stehen die meisten Pflegekräfte unter einem beständig zunehmenden Zeitdruck, ohne dass sie für die neu hinzukommenden Aufgaben zeitlich mehr Ressourcen erhalten. So ist eine Pflegekraft zuständig für die Dokumentation, die Beratung von Angehörigen, es müssen Absprachen mit Ärzten getroffen werden.

Jeder Pflegeschritt muss schriftlich dokumentiert werden, andererseits erfolgt aber lediglich eine pauschale Aufrechnung der Zuwendungen, d.h. Pflege und Essenszeit erfolgt im Minutentakt – und das auch noch unabhängig von Krankheit und Persönlichkeit des zu Pflegenden.

Das Dubiose an der Sache ist aber, dass heutzutage – aufgrund der Deckelung der Pflegesätze – bis zu 20 Prozent weniger Geld für die Altenheime zur Verfügung steht als vor der Einführung der Pflegeversicherung! Der Grund: Alle Überschüsse aus der Pflegeversicherung werden umgeschichtet, um anderweitige Regierungsdefizite auszugleichen.

Anstatt diese Gelder ausnahmslos für die Pflege einzusetzen! Von daher ist es auch vorrangigstes Ziel der Bundesregierung, die Finanzlage der Pflegeversicherung „stabil“ zu halten. Denn je mehr Rücklagen hier gebildet werden können, desto mehr Gelder stehen für andere Zwecke zur Verfügung.

Auch darf ein weiter wichtiges Alarmzeichen nicht übersehen werden: Vor Einführung der Pflegeversicherung war die Verweildauer einer Pflegekraft in ihrem Beruf noch doppelt so lange wie heute.

Heute lässt man den Pflegenden nicht einmal mehr die Zeit, ganzheitlich zu pflegen, die individuellen Bedürfnisse der Pflegebedürftigen einzubeziehen und ausreichend Zeit für eine fach- und situationsgerechte Pflege. Was wir brauchen, ist aber eine Vereinheitlichung der Ausbildungsgänge von Altenpflegern und Krankenschwester sowie eine generalisierende Grundausbildung.

Des Weiteren bedarf es einer dringenden Kampagne, um Pflegekräfte, die ausgestiegen sind, wieder ins Berufsleben zurückzuholen. Die Zukunft muss derart gestaltet werden, dass den Pflegenden solche Strukturen geboten werden, dass sie erst gar nicht mehr auf die Idee kommen, auszusteigen.

Zudem ist es dringend erforderlich, die Rechte der Heimbewohner gegenüber dem Primat der Wirtschaftlichkeit zu stärken, um auf diese Weise wieder die Durchsetzung der Rechte der Pflegebedürftigen zu gewährleisten. Denn weder bei Alten- noch bei Pflegewohnheimen darf es sich weiter wie bisher um so genannte „rechtsfreie Räume“ handeln.

Pflege nach Katalog: Hauptsache satt statt sauber

Obwohl die Verantwortlichen der Politik, der Kirchen, die Gesellschaft selbst sowie die Funktionäre der Heim- und Kostenträger tagtäglich mit der Wahrheit konfrontiert werden – sei es durch Stimmen Betroffener, sei es durch die Presse – es wird nichts unternommen.

Stattdessen aber werden die meisten Prüfungen in den Pflegeheimen vorher angekündigt, die Pflegedokumentationen schnell auf Vordermann gebracht. Man spricht von Luxus, den man sich nicht mehr leisten kann. Wörtlich übersetzt: Von Pflegebedürftigen, die zwar das Pflegeheim finanzieren, die aber selbst nicht mehr finanziert werden können.

Wohl dem Politiker, wohl der Heimleitung, die bei den Pflegesatzverhandlungen den pflegebedürftigen Menschen persönlich in die Augen sehen könnten. Nicht sie, sondern die nunmehr Pflegebedürftigen waren es, die Deutschland wiederaufgebaut und schlimme Kriegszeiten erlebt haben.

Sie waren es, die Kinder großgezogen haben. Doch anstatt diese Menschen zu trösten, mit ihnen auf die Toilette zu gehen, ihnen beim Sterben die Hand zu halten, wird ihnen eiskalte Kreativität entgegengebracht: Die Kreativität von Pflege erleichternden Maßnahmen. Eine ethische Katastrophe und ein volkswirtschaftlicher Irrsinn.

 

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